Meine Texte: Lichtblicke
Jan. 2nd, 2016 04:30 pm![[personal profile]](https://www.dreamwidth.org/img/silk/identity/user.png)
Lichtblicke
Faris zieht die Tür hinter sich zu und stapft nach draußen. Es ist kalt und seine Jacke viel zu dünn, doch die warme Jacke, die Mutter ihm gebracht hat, zieht er nicht an. Hellblau ist die, eine Mädchenfarbe! Da friert er lieber.
Draußen spielen ein paar Jungs Fußball. Yussuf winkt ihm zu. „Hey, du kommst gerade recht, wir brauchen noch einen Rechtsaußen!“
Faris schüttelt den Kopf. „Keine Zeit“, ruft er. „Ich muß gleich wieder rein.“
Zeit hätte er schon, seine Pflichten für heute sind erledigt und die Schulaufgaben gemacht. Doch er hat etwas anderes vor.
Eilig schlägt er den Weg zum Wald ein, der hinter dem Wohnheim entlangführt. Dort liegen viele schmale Gärten mit hohen Zäunen und kleinen Häuschen, jeder wie ein kleines Deutschland, sagt sein Vater. Faris versteht nicht, was er damit meint, ihm gefallen die geraden, kleinen Wege und Mäuerchen, die ordentlichen Beete mit Blumen und Gemüse und die lustigen Figuren überall. Manchmal gibt es kleine Teiche mit einem Frosch, der Wasser spuckt, und im Sommer essen die Leute dort oft zu Abend. Das ist doch viel schöner als ihr Garten daheim in Hama! Der war zwar viel größer, aber es gab nur Gemüse und Arbeit. Hacken, Unkraut jäten und einen Klaps von der Großmutter, wenn er trödelte. Daheim fand er Gärten öde, aber hier kommt er gern her und schaut den Leuten zu. Manche gucken komisch, aber die meisten lächeln und grüßen, und manchmal schenken sie ihm was. Die Mutter freut sich immer über die Zucchini und Tomaten und bäckt Mamoul, damit er etwas zurückgeben kann.
Er weiß noch wie er das erste Mal herkam, im Frühjahr. Sie waren gerade hergekommen vom Auffanglager, und Faris begriff das erste Mal, daß sie nicht wieder heimkonnten. Der Vater zeigte ihm auf dem Handy Fotos von ihrem Haus in Hama; nur noch eine zerschossene Ruine, alles kaputt. Die Großmutter und ein Onkel waren tot, und die anderen auch geflohen, niemand wußte wohin. Da war er weggerannt, nur fort, fort, zum Wald, vorbei an den Gärten mit den Zäunen, bis er nicht mehr konnte. Später, in der Dämmerung, als er mit tränenverschmiertem Gesicht und aufgeschlagenem Knie den Weg zurück suchte, war da ein Licht direkt am Waldrand, dem er folgte. Es kam aus dem Fenster eines dieser Häuschen, und als er noch stand und guckte, ging die Tür auf. Eine Frau in einem kunterbunten Pullover kam heraus. Sie sagte etwas, das er nicht verstand, doch sie lächelte und deutete mit der Hand auf die offene Tür. Er ging mit, obwohl er ein bißchen Angst hatte, weil er sie nicht kannte und verstand.
Drinnen war es warm und gemütlich. Die Frau winkte ihn zu einem Stuhl, gab ihm Kekse und heißen Tee und lächelte und redete dabei die ganze Zeit. Um sein Knie machte sie ein großes Gewese, das ihm sonst peinlich gewesen wäre, aber hier sah ihn ja niemand. Die Mutter hätte nur ein Pflaster draufgeklebt und wegen der kaputten Hose geschimpft, aber die Frau wusch sein Knie vorsichtig ab, sprühte etwas Komisches drauf und ließ ihn dann ein buntes Pflaster aussuchen. Wie ulkig, bunte Pflaster! Was es in Deutschland alles gab. Dann zeigte sie auf sich und sagte ihren Namen, Maria, und Faris sagte seinen und ‘Danke’ und ‘sehr freundlich’, alles, was er schon konnte auf Deutsch. Später nahm sie ihn bei der Hand und brachte ihn zurück zum Wohnheim, bis zur Ecke, und winkte ihm nach.
Diesmal schimpfte die Mutter nicht wegen der Hose, sondern lachte und weinte und nahm ihn in den Arm. Am nächsten Tag buk sie Mamoul und schickte ihn damit zu Maria, zum Danke sagen.
Von da an ging er regelmäßig zu Maria. Sie half ihm, Deutsch zu lernen und er half ihr im Garten, und am Wochenende lud sie seine Familie ein oder kam zu Besuch.
Doch dann kam der Herbst und Maria war nicht mehr jeden Tag da, und nun sind alle Gärten kahl und verlassen.
„Hallo Faris“, ruft sie. „Hast du mich vermißt?“
„Ja“, sagt er und lacht erleichtert. Maria lacht auch und deutet auf ihre rote Nase. „Ich war krank, Grippe“, sagt sie und geht voran ins Gartenhäuschen, wo ein kleiner Holzofen bullert. Gemütlich ist es, es riecht nach Gebäck und Tannenzweigen, und auf dem Tisch brennt eine Kerze. Maria schenkt ihm Tee ein.
„Heute ist der erste Advent“, erklärt sie. „Das ist ein Feiertag für uns Christen. Wir feiern bis Weihnachten jeden Sonntag Jesus’ bevorstehende Geburt.“ Dann will sie wissen, was es Neues gibt.
Als es Zeit ist zu gehen gibt sie ihm einen Zettel und eine Kerze. „Das ist meine Telefonnummer. Hier ist es zu kalt, ihr müßt zu mir nach Hause kommen. Vielleicht nächsten Sonntag, zum zweiten Advent? Die Kerze zündest du zu Hause an, denn Advent, das ist auch die Zeit des Friedens, und den wünschen wir uns alle.“
(*) Das Weihnachtsheft ist eine Sammlung von Weihnachtsgeschichten verschiedener Autoren quer durch alle Genres und Themenbereiche. Seit 2009 erscheint jedes Jahr ein von einem Weihnachtslied inspiriertes Heft mit ungewöhnlichen und oft untypischen Geschichten zur Weihnachtszeit. Weitere Infos gibt es hier.