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Die folgende Geschichte entstand 2019 für das Projekt Weihnachtsheft(*) zum Thema 'Es ist ein Ros entsprungen'.

Roslin

Roslin schlüpfte leise hinaus. Die Sonne war kaum aufgegangen, Tau glitzerte in dicken Tropfen auf den Blättern. Vorsichtig kroch sie über einen Ast auf das nächste Blatt und fing einen der Tropfen mit den Händen auf, um ihren Durst zu stillen. Nichts war besser als der erste Tautropfen am Morgen, fand sie, und angelte vorsichtig nach einem zweiten. Bevor sie trank betrachtete sie die glatte, perfekte Kugel in ihren Händen, bewunderte die Reflektionen darin und den winzigen Regenbogen, den man in jedem Tautropfen sehen konnte.
Eine Bewegung hinter ihr brachte das Blatt zum Zittern, und die Kugel in ihren Händen zerplatzte und rann zusammen mit allen anderen Tropfen hinab in die Tiefe. Roslin sah sich um. “Vater! Jetzt ist meine Kugel zerbrochen. Ich wollte noch trinken.”

Der Vater lachte und setzte sich mit baumelnden Beinen an den Blattrand. “Und ich dachte du bewunderst dich selbst, so versunken warst du. Hol dir einen neuen Tropfen, es sind noch genug da.”

Roslin nickte, sah sich um und zog sich dann behutsam an der Wurzel eines weiteren Blattes nach oben. Sie musste gut aufpassen; hier im Rosenbusch gab es gefährliche Dornen. Nachdem sie getrunken hatte, legte sie sich bäuchlings auf ihr Blatt und schaute zum Vater hinunter. “Ich habe Hunger. Gibt es was zu essen?”

Das Lachen verschwand vom Gesicht des Vaters. “Lass uns mal schauen, ob wir Hagebutten finden.”

Roslin mochte diesen Gesichtsausdruck nicht. Er bedeutete Sorgen - so hatte der Vater immer ausgesehen, bevor sie ihr altes Zuhause verlassen hatten, einen dichten, stark duftenden Busch mit schwarzen Beeren. Dort hatten sie gelebt so lange sie sich erinnern konnte. Doch dieses Jahr war den ganzen Sommer lang kein Himmelswasser gekommen, und in der Hitze war alles vertrocknet. Nicht mal die Blätter konnte man noch essen, und die wenigen noch lebendigen Zweige waren schwarz vor Saftsaugern.
Sie hielt sich am Blattrand fest und ließ sich kopfüber nach unten rollen, wo der Vater sie auffing und kurz an sich drückte. Dann folgte sie ihm den Ast hinunter, an dem ihre Blätter saßen. Sie schaute genau wohin er trat, stolz dass er ihr nun zutraute, alleine durch die Dornen zu klettern.

Sie kletterten lange, Äste hinauf und wieder hinunter, hinaus auf Zweige und da von Blatt zu Blatt. Hagebutten fanden sie jedoch keine - zumindest keine die man essen konnte. Die meisten Knospen waren bereits abgebrochen, und was noch dranhing war entweder schwarz und eingetrocknet oder voller Saftsauger.

“Schau mal hier,” sagte der Vater mit ernster Miene und zeigte ihr eine der abgebrochenen Stellen. “Hier müsste eigentlich eine Frucht sein, aber durch die Trockenheit ist sie schon längst abgefallen.”

Roslin schluckte. Sie verstand noch nicht viel von den Pflanzen auf denen sie lebten und die sie aßen, doch sie begriff sofort, dass das kein gutes Zeichen war.
“Was machen wir jetzt? Müssen wir jetzt Saftsauger essen?“

“Wenn wir nicht genug finden müssen wir weiterziehen. Aber so schlimm ist es noch nicht. Der Busch hier ist noch gesund, auch wenn er unter der Trockenheit leidet. Kannst du noch?”

“Klar!” Roslin stellte sich gerader hin. “Ich kann so lange wie du!”

Das brachte den Vater zum Lachen, und sie umarmte ihn stürmisch. Wenn er noch lachen konnte war es bestimmt nicht so schlimm. 

“Dann mal los. Schaffst du es auf das Blatt dort zu springen?”

Der Abstand war groß, doch Roslin nickte, nahm Anlauf und sprang. Sie stand kaum wieder aufrecht, als ihr Vater schon neben ihr war und ihr auf die Schulter klopfte.

“Gut gemacht! Bald kannst du alleine sammeln gehen. Und jetzt schauen wir mal was wir hier finden.”

Weiter ging das Klettern und Suchen, und diesmal hatten sie Erfolg: ganz versteckt, tief im Inneren des Busches, gab es frische Hagebutten, rot und prall und makellos, und keine Saftsauger weit und breit. Der Vater brach eine der Früchte ab und rollte sie in die Blattmitte, wo er sie mit seinem Dornenmesser aufschlitzte und auseinanderbrach.
“Schau, diese Kerne hier kann man nicht essen, die müssen wir entfernen. Aber zuerst gibt’s Frühstück!”
Er schnitt ein großes Stück aus der dicken Schale und hielt es ihr hin. “Bitteschön, das hast du dir verdient!”
Selbst nahm er nur ein kleines Stück, und dann saßen sie mit gekreuzten Beinen nebeneinander und schmausten.

“Hmm, das war lecker!”, Roslin wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und grinste über den mahnenden Blick des Vaters. “Bisschen herb, aber nicht so sauer wie manchmal die Ribisl, und keine schwarzen Finger.”

Der Vater lächelte. “Stimmt. Außerdem nahrhafter, ein Stück von der Schale macht so satt wie eine große Beere.”

Nachdem sie die restliche Frucht gesäubert und zur Mutter ins Nest gebracht hatten, nahm der Vater sie wieder mit hinaus. Roslin freute sich, endlich war sie alt genug, um zu lernen wie man Nahrung findet und nach Hause bringt! Diesmal waren sie lange unterwegs, denn der Busch musste erst noch erkundet werden. Roslin musste oft springen und sich an Blättern hinaufziehen, und weit unten waren die Äste dick und die Dornen gruselig groß. Hier war es auch schattig und kühl, und es gab überall saftige, frische Blätter. Auch die schmeckten gut!
Dann ging es wieder nach oben, an den dicksten Ästen entlang, und Roslin war froh, als sie immer wieder das tiefe Rot gesunder Früchte erspähte.

Schließlich waren sie ganz oben angelangt, auf einem der höchsten Blätter. Und hier fanden sie endlich was der Vater die ganze Zeit gesucht hatte: eine Knospe!

Sanft legte er die Hände um die Kelchblätter. “Ist sie nicht wunderschön?”

Roslin nickte. “Das ist ein gutes Zeichen, oder?”

“Ja. Knospen bedeuten neues Leben, und damit neue Nahrung. Wir sammeln immer nur was der Busch entbehren kann, und wenn er mehr trägt haben wir mehr zu essen.”

“Und zum Dank verjagen wir die Saftsauger, nicht?”

“Genau. Wir pflegen die jungen Pflanzentriebe, damit der Busch gut wachsen kann. Du bist nun alt genug, Roslin, diese Knospe soll deine erste sein. Morgen bekommst du ein Dornenmesser und einen Stab, mit dem du die Saftsauger abstreifen kannst. Dann bist du auch eine Hüterin!”

Roslin strahlte, und ihr Herz sang.

(*) Das Weihnachtsheft ist eine Sammlung von Weihnachtsgeschichten verschiedener Autoren quer durch alle Genres und Themenbereiche. Seit 2009 erscheint jedes Jahr ein von einem Weihnachtslied inspiriertes Heft mit ungewöhnlichen und oft untypischen Geschichten zur Weihnachtszeit. Weitere Infos gibt es hier.

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